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Sozialhilfeträgerregress: Ein Damoklesschwert über Kindern oder wichtiges Ventil der Sozialhilfe?

Die Familie steht unter besonderem Schutz des Staates. Eine Verankerung zeigt sich schon beim Blick auf Artikel 6 des Grundgesetzes, nach dem der Ehe und Familie ein besonderer Schutz durch die staatliche Ordnung zukommt. Ausfluss dieses Prinzips ist auch die gegenseitige Unterhaltspflicht im Falle einer Bedürftigkeit. Mit Inkrafttreten des Angehörigenentlastungsgesetzes am 01.01.2020 hat sich die Rechtslage noch einmal erheblich geändert. Der Gesetzgeber hat erkannt, dass eine Inanspruchnahme der potentiell Unterhaltsverpflichteten in manchen Fällen eine unzumutbare Belastung darstellen kann. Dann kann auch eine Verteidigung durchaus sinnvoll sein, um in Eigenverantwortung und freier Gestaltung die familiäre Versorgung selbst in die Hand nehmen zu können. In diesen Fällen begleiten und beraten wir Sie hinsichtlich der umzusetzenden Schritte.


Der Anteil der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland nimmt stetig zu. Im Jahr 2017 gab es etwa 3,4 Millionen Pflegebedürftige. Es kommt häufig vor, dass die kostenintensive stationäre Behandlung vom Bedürftigen selbst auch durch die Rente nicht oder nicht vollständig erbracht werden kann. Wenn Sozialhilfeträger diese Leistungen im Rahmen der sozialgesetzlich geregelten Sozialhilfe erbringen, fordern sie die entsprechenden Zahlungsbeträge danach oft zumindest teilweise von Angehörigen des Empfängers zurück. Das Einfallstor ist dann die jeweilige Unterhaltspflicht gegenüber dem Leistungsempfänger. Hat der Sozialhilfeempfänger einen gesetzlichen Unterhaltsanspruch gegenüber seinen Kindern, kann das Sozialamt die erbrachten Zahlungen im Rahmen des sogenannten Sozialhilferegresses, bzw. Sozialhilfeträgerregresses gegenüber den unterhaltsverpflichteten Angehörigen geltend machen. Das geschieht in der Praxis mit der sogenannten Überleitungsanzeige, mit der der Übergang der Ansprüche des Hilfebedürftigen auf das Sozialamt schriftlich angezeigt wird. Der Sozialhilfeträger tritt hierdurch in die rechtliche Position des Unterhaltsberechtigten gegenüber den unterhaltspflichtigen Verwandten ein. Dadurch wird der Zahlungsweg, der bezüglich der Unterhaltszahlungen ansonsten von den Verpflichteten über den Bedürftigen und von dort bis zum Sozialhilfeträger, der z.B. die Pflegekosten übernommen hat, liefe, verkürzt. Es besteht grundsätzlich kein Unterhaltsanspruch für die Vergangenheit. Den potentiell unterhaltsverpflichteten Kindern stellen sich meist dieselben Fragen: Muss ich Unterhalt zahlen? Wie wird mein Einkommen berechnet? Muss mein Ehepartner ebenfalls zahlen? Welcher Selbstbehalt bleibt mir?

 

Neue Gesetzeslage seit dem 01.01.2020

 

Seit dem Angehörigenentlastungsgesetz, das zum 01.01.20 in Kraft getreten ist, können Angehörige erst ab einem Jahreseinkommen von EUR 100.000 zum Regress herangezogen werden. Darunter gilt grundsätzlich die sog. „Unterschreitensvermutung“. Das bedeutet, dass die unterhaltspflichtigen Kinder bei einem geringeren jährlichen Einkommen keine Unterhaltspflicht und damit auch keine Überleitung trifft, es sei denn, der Sozialhilfeträger hat „hinreichende Anhaltspunkte“, dass die Einkommensgrenze überschritten wird. 

 

Wenn die Jahresgrenze überschritten wird, wird nacheinander geprüft:

  1. Bedarf Unterhaltsberechtigter, also z.B. die Höhe anfallender Heim- oder Pflegekosten
  2. Bedürftigkeit Unterhaltsberechtigter, also Berücksichtigung der dem Berechtigten selbst zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel mit Berücksichtigung von Selbstbehalten oder anderweitigen nicht einzusetzenden Vermögensmitteln
  3. Leistungsfähigkeit Unterhaltspflichtiger bezüglich des nicht gedeckten Teils von z.B. Heim- oder Pflegekosten anhand von Angaben zu der jeweiligen Einkommenssituation
  4. Angemessenheitskontrolle

Mit dem Angehörigenentlastungsgesetz soll die Situation für unterhaltsverpflichtete Eltern und Kinder von Hilfsbedürftigen in der Sozialhilfe und im sozialen Entschädigungsrecht verbessert werden. Dabei stellt sich oft die Frage, ob auch der Ehepartner von Unterhaltsverpflichteten in diese Rechnung einbezogen wird, d.h. ob z.B. ein Schwiegersohn die ungedeckten Pflegekosten seiner Schwiegereltern begleichen muss und dementsprechend auch einem übergeleiteten Anspruch eines Sozialhilfeträgers ausgesetzt werden kann.

 

Beispiel:

Verdient der Abkömmling eines Pflegebedürftigen nun bspw. EUR 95.000, der Ehegatte aber EUR 120.000, so geht der Anspruch nicht auf den Sozialhilfeträger über. Schwiegerkinder sind vom Übergang des Leistungsanspruchs grundsätzlich nicht betroffen. Verdient aber der Abkömmling selbst schon EUR 110.000, so wird das Einkommen des Ehegatten im Rahmen des Familieneinkommens berücksichtigt. Maßstab für die Berechnung des Einkommens ist das Einkommenssteuerrecht. Wenn eine Überschreitung feststeht, dann hat die Person auch Auskunft über ihr Vermögen zu erteilen. 

 

Zu beachten ist: Für die Beurteilung, ob die Jahreseinkommensgrenze der EUR 100.000 überschritten ist und daher eine Leistungsfähigkeit vorliegt, ist grundsätzlich nur das laufende Gesamteinkommen zu berücksichtigen und nicht sonstiges vorhandenes Vermögen. Weist der Verpflichtete jedoch ein jährliches Einkommen oberhalb dieser Grenze von EUR 100.000 auf, wird auch das sonstige Vermögen zur Berechnung einer Leistungsfähigkeit berücksichtigt, wenn und soweit es zu Unterhaltszwecken zu verwenden ist. Ausgenommen werden hiervon allerdings regelmäßig Vermögensgüter wie das eigengenutzte Familienheim. Für den Ehegatten besteht im Übrigen ebenfalls eine Auskunftspflicht gegenüber dem Sozialhilfeträger für den Fall, dass das Einkommen des unterhaltspflichtigen Kindes (also seines Ehegatten) die oben genannte Jahreseinkommensgrenze überschreitet.

 

Einkommensberechnung nach dem Gesamteinkommen

 

Der Sozialhilfeträger berechnet das Erreichen der Einkommensgrenze und damit eine potentielle Zahlungspflicht nach dem Gesamteinkommen. Dazu zählt bei Arbeitnehmern der Bruttolohn, abgezogen werden Werbungskosten und auch Kinderbetreuungskosten. Zu den Einkünften zählen jedoch auch solche aus Vermietung und Verpachtung oder Kapitalerträge. Die jeweiligen Zahlen werden meist den jeweils aktuellen Steuerbescheiden entnommen. Bei selbstständig Tätigen wird der steuerrechtliche Gewinn herangezogen, der wiederum um Werbungskosten und Kinderbetreuungskosten gemindert wird. Da dem Sozialhilfeträger in diesem Zusammenhang ein sozialgesetzlicher Auskunftsanspruch gegenüber den Verpflichteten zusteht, müssen diese entsprechende Angaben machen, die einen Rückschluss auf ihre Einkommensverhältnisse ermöglichen. In der Regel sind also einschlägige Unterlagen wie Einkommenssteuerbescheide, Gehaltsabrechnungen o.Ä. vorzulegen.

 

Keine Zahlung bei Fall von unbilliger Härte

 

Eine Vermeidung dieses Regresses ist vor allem dann angezeigt, wenn ein Fall von unbilliger Härte vorliegt. Dann geht der Unterhaltsanspruch nicht über.

 

Beispiel:

Seitens des Kindes werden bereits erhebliche Leistungen zur häuslichen Pflege erbracht, oder der Elternteil war aufgrund psychischer Erkrankung nicht in der Lage, für das auf Elternunterhalt in Anspruch genommene Kind selbst zu sorgen, als er noch erziehungsberechtigt war, so wie in einem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall (BGH, Urteil v. 21.4.04, XII ZR 251/ 01).

 

Ebenfalls unbillige Härte liegt nach Anerkennung der Rechtsprechung bei Straftaten von Eltern gegen ihre Kinder vor, bei Vernachlässigung im Kindesalter oder bei elterlicher Weigerung zur Zahlung von Unterhalt zu Zeiten eines Unterhaltsanspruchs der Kinder. Allerdings ist die Grenze dazu relativ hoch, der Bundesgerichtshof hat 2014 noch einen Fall entschieden, bei dem ein Sohn zum Unterhalt gegenüber seinem Vater verpflichtet wurde, obwohl der Vater den Kontakt zum Sohn im Alter von 19 Jahren abgebrochen hatte (Az. XII ZB 607/12). Ein Kontaktabbruch reicht also nicht aus, um von einer Vernachlässigung zu sprechen. Jedoch sollte immer dann an einen Ausschluss der Unterhaltsverpflichtung gedacht und dieser zumindest geprüft werden, wenn sich aus den individuellen Umständen unter Wertungsgesichtspunkten ein Störgefühl einstellt. Dieses Störgefühl umschreibt nicht selten tatsächlich einen rechtlich gebotenen Ausschluss der Unterhaltspflicht. Hier kommt es in jedem Fall auf die Prüfung des Einzelfalls unter Heranziehung der gerichtlichen Bewertungsgesichtspunkte an. 

 

Es geht dabei ausdrücklich nicht darum, sich – außer in den genannten Härtefällen - der gesetzlichen Verantwortung zu entziehen, sondern darum, in Eigenverantwortung und freier Gestaltung die Möglichkeit zu erhalten, eine Versorgung der eigenen Angehörigen selbst in die Hand nehmen und planen zu können. 

 

Vorsicht bei (Immobilien-)Schenkungen

 

Aus Angst davor, dass die eigene Immobilie später für Pflegekosten eingesetzt werden muss, werden häufig Immobilien auf die Kinder übertragen. Im Rahmen des Sozialhilfeträgerregresses kann es allerdings passieren, dass Schenkungen innerhalb eines gewissen vorangegangenen Zeitraumes revoziert werden. 

 

Beispiel: 

Der Vater V überträgt 2018 sein Haus auf seinen Sohn S. Im Jahr 2021 wird er pflegebedürftig und seine eigenen Mittel reichen nicht aus, um die erheblichen Pflegekosten zu zahlen. Das Sozialamt kann nun die Übertragung des Hauses aus 2018 anfechten und die Rückübertragung des Eigentums auf V verlangen. Das Haus würde dann verkauft und der Erlös darauf für die Pflegekosten aufgebracht werden. 

 

Ein mögliches Risiko besteht aber nicht nur für Immobilien: Vor kurzem hat das Oberlandesgericht Celle in einem ähnlichen Fall entschieden, dass auch regelmäßige Zahlungen zum Kapitalaufbau zurückgefordert werden können, wenn der Schenker selbst bedürftig wird. Im entschiedenen Fall hatte die Großmutter für ihre Enkel nach deren Geburt jeweils ein Sparkonto eröffnet und darauf über einen Zeitraum von ca. zehn Jahren jeweils 50 Euro monatlich eingezahlt. Nachdem sie pflegebedürftig wurde und die anteilig zu tragenden Pflegekosten nicht aus eigenen Mitteln aufbringen konnte, hat der Sozialhilfeträger von den Enkeln die Rückzahlung der eingezahlten Sparbeiträge verlangt. Nach Argumentation des OLG Celle stellen über mehrere Jahre monatlich geleistete Zahlungen an Familienangehörige zum Kapitalaufbau keine privilegierten Schenkungen im Sinne des § 534 des Bürgerlichen Gesetzbuchs dar, weswegen der Sozialhilfeträger diese zurückfordern kann. Die Richter haben ebenfalls betont, dass es für die Rückforderung nicht darauf ankommen kann, ob es für die Großmutter bei Beginn der Zahlung abzusehen war, dass sie später einmal pflegebedürftig werden würde. (OLG Celle vom 13.02.2020, 6 U 76/19). Falls also seit der Schenkung weniger als 10 Jahre vergangen sind, ist diese Revokation grundsätzlich möglich. 

 

Stehen vor dem Hintergrund einer nicht unwahrscheinlichen Pflegebedürftigkeit von nahen Angehörigen auch diverse Zahlungen wie Schenkungen im Raum, bedarf die rechtliche und steuerliche Bewertung einer präzisen Prüfung von Experten. Um hieraus Planungssicherheit für eine stabile Versorgung zu gewinnen und spätere Konflikte zu vermeiden, beraten wir Sie schon frühzeitig zu allen Themen im Zusammenhang mit Verwandtenunterhalt, Vermögensstrukturen und Optimierungsmöglichkeiten.