(Auch) eine Familie braucht eine Strategie

Ein Gastbeitrag von Professor Dr. Tom A. Rüsen, Geschäftsführender Direktor des WIFU

 

Was hält eine Unternehmerfamilie über Generationen hinweg zusammen? Diese Frage ist für Unternehmer essenziell. Am Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU) ist aus vielen Antworten von vielen Familien über Jahre hinweg ein praxistaugliches Modell entwickelt worden.

Professor Dr. Tom A. Rüsen ist Geschäftsführender Direktor des Wittener Instituts für Familienunternehmen sowie Geschäftsführender Vorstand der WIFU-Stiftung. Mehr unter wifu.de


Wie weit kommt man denn schon mit zwölf Schritten auf einem langen Weg? Ihre spontane Antwort lautet vermutlich: Nicht weit.

 

Lassen Sie mich Ihnen widersprechen. Die Erfahrung des Wittener Instituts für Familienunternehmen (WIFU) zeigt: Mit zwölf Schritten gelangt man ins Ziel.

 

Aber wir wollen zunächst das Ziel genauer betrachten. Es geht um Familienstrategie als Pendant zur Unternehmensstrategie. Genauso professionell wie ein Familienunternehmen kann sich auch eine Unternehmerfamilie entwickeln.

 

An diesem Punkt setzt manchmal ein Unbehagen ein: Jetzt soll auch noch die Familie, dieses Refugium des Privaten, „professionalisiert“ werden, versachlicht werden?! Diese Bedenken lösen sich meist sehr schnell auf, wenn die Unternehmerfamilie zu überlegen beginnt, mit welchen (noch) impliziten Ideen sie ihre Familienangelegenheiten und ihr Verhältnis zum Unternehmen ohnehin bereits regelt. Manchmal mündlich vermittelt, stets aber durch Beispiel und Vorleben, gibt es in den Familien grundsätzliche Ideen zum Umgang mit Geld, über das Verhältnis zum Unternehmen und wohl auch zum Thema Nachfolge und Fortbestand des Unternehmens. 

 

Dies ist gelebter Alltag – und irgendwann wird dieser Alltag des Gewohnten auf die Probe gestellt werden. Dafür gibt es viele Anlässe. Vielleicht möchte die Schwester ihrem Sohn nach dessen Studium eine Position im Unternehmen verschaffen, vielleicht geht es um die Höhe einer Sonderausschüttung, vielleicht stellt sich die Frage nach der Familienzugehörigkeit von Adoptivkindern oder ein junger Gesellschafter postet bei Instagram zu viel und zu unbedacht. Nach welchen Regeln und Kriterien trifft die Unternehmerfamilie dann ihre Entscheidungen?

Jede Unternehmerfamilie und jeder Berater solcher Familien kennt die Eskalationen, die sich schnell aus solchen Situationen entwickeln können. Wer also die Beschäftigung mit einer Familienstrategie noch scheut, sollte sich einmal fragen: Was passiert denn, wenn nichts passiert? Jeder Unternehmer weiß, wie gefährlich es ist, die Dinge einfach laufen zu lassen.

 

Das WIFU ist seit seiner Gründung im Jahr 1998 mit Unternehmern, Gesellschaftern und Familien in vertrauensvollem Austausch. Wertvolle Einblicke verdanken wir den Mehr-Generationen-Gesellschafterfamilien, die uns in ihr Familienmanagement und ihre Familienverfassungen (oder Kodizes oder Chartas) eingeweiht haben, deren Stärken und Schwächen mit uns erörtert haben. Aus diesen Gesprächen und Analysen haben wir das Wittener Prozessmodell einer Familienstrategie entwickelt. Sein Wert liegt darin, dass wir es nicht in der Theorie ersonnen haben, sondern dass durch unzählige Feedbackschleifen das konkrete Wissen der Familien eingeflossen ist.

 

Aus den erwähnten zwölf Schritten setzt sich das Wittener Modell zusammen (siehe Schaubild):

 

  1. Individuelles Bekenntnis zum Familienunternehmen/ Kernfragen der Überlebenssicherung 
  2. Definition von Familie/ Zugehörigkeit zu Familiensystemen
  3. Werte und Ziele für Unternehmen und Familie
  4. Rolle und Funktion von Mitgliedern der Familie im Unternehmen
  5. Rolle und Funktion von Familienmitgliedern als Gesellschafter
  6. Installation von Gremien in Unternehmen und Familie
  7. Information, Kommunikation und Verhalten
  8. Konfliktbewältigung/ Krisenprävention
  9. Ausschüttungspolitik/ Vermögensstrategie
  10. Vorhandenes Familienmanagementsystem
  11. Aufbau von Gesellschafterkompetenz
  12. Regeln zur Einhaltung und Veränderung der Regeln

Diese Reihenfolge muss im Erarbeitungsprozess nicht sklavisch abgearbeitet werden, sie hat sich jedoch in der Praxis bewährt. Lässt sich eine Familie auf dieses gemeinsame Unterfangen ein, lässt sie sich auch darauf ein, dass bisher Unausgesprochenes zutage tritt. Dies kann durchaus zu Auseinandersetzungen führen, doch dies unterstreicht geradezu, dass es wichtig und vielleicht schon überfällig war, Hoffnungen, insgeheim gehegte Erwartungen und alte Überzeugungen auf den Tisch zu legen und zu prüfen. Reinigende Gewitter schaden nicht. Und häufig resümieren die Beteiligten im Rückblick, dass auch sie im Sinne ihrer individuellen Entwicklung von diesem auf die ganze Familie bezogenen Prozess profitiert haben.

 

Die Schritte 1 bis 3 klären Grundfragen zum Selbstverständnis der Unternehmerfamilie, beispielhafte Aspekte können sein: Mit welchem Selbstbild blickt die Familie auf sich? Hat die Familie Leitideen, auf die sich alle einigen können, oder einen Wertekanon? Wer gehört überhaupt zur Familie? Wer gehört zur Unternehmerfamilie, wer zum Kreis der Gesellschafter? Wie will die Familie mit Einzelnen umgehen, die den Gesellschaftskreis verlassen?

 

Die Schritte 4 bis 6 sowie 9 führen zum Verhältnis von Unternehmen und Familie. Ist es gewünscht, dass Familienmitglieder im Unternehmen arbeiten und auf welcher Ebene, in welchen Positionen? Wer entscheidet, ob deren Qualifikation ausreicht? Welche Vergütung wird gezahlt? Wie geht die Familie vor, wenn die Mitarbeit nicht gelingt? Geht Konsens vor Entscheidungsfähigkeit? Wie können Anteile vererbt oder verschenkt, wie und wann verkauft werden? Gibt es für bestimmte Berechtigungen Altersunter- oder -obergrenzen? Wird ein Ehevertrag vorgeschrieben? Wer spricht mit den jungen Paaren im Gesellschafterkreis darüber? Welches Verständnis über Eigentum und Besitz haben die Gesellschafter? Ist der Familie ein bestimmter Lebenswandel wichtig, der unter Umständen die individuellen Freiräume einschränkt? Wer bestimmt über die Höhe von Ausschüttungen? In diesen Themenfeldern liegt leicht entzündliches Material auf dem Tisch, geht es doch um delikateste Themen wie Geld und Liebe.

 

Die weiteren Themenfelder behandeln die familieninterne Kommunikation, die Arten und Weisen einer konstruktiven Kommunikation („Goldene Regeln“) und auch den Auftritt in der Öffentlichkeit. Weitere Fragen stellen sich zum Umgang mit Konflikten und mit Krisen. Wie kann einer „Enthemmung“ der Familienkommunikation vorgebeugt werden? Gibt es für eskalierte Fälle ein Schlichtungsgremium? Was geschieht beim Ausfall von Verantwortungsträgern? Gibt es einen „Notfallkoffer“?

 

Auch auf die fachliche Kompetenz der Gesellschafter richtet sich der Blick. Für nicht im Unternehmen tätige, gleichwohl an dessen Geschicken interessierte Familienmitglieder ist ein Programm zur Gesellschafterkompetenzentwicklung sinnvoll. Wer also soll daran teilnehmen (dürfen oder müssen)? Wer bezahlt das Programm? Das Management der Familie muss ebenfalls zum Thema werden: Wer kümmert sich darum, welche Familientreffen soll es geben, wer pflegt der Familienkalender, ist ein Familien-Intranet sinnvoll? Und schließlich wird im Wittener Prozessmodell der Blick darauf gerichtet, dass die Ergebnisse des Prozesses nicht für die Ewigkeit sind und sich möglicherweise nicht alle daran halten. Wie also will die Familie mit Regelbrüchen umgehen? Werden die Ergebnisse des Prozesses regelmäßig überprüft? Durch welches Vorgehen können die Festlegungen geändert und angepasst werden?

 

Am Ende des Weges steht das Ziel: ein von (möglichst) allen unterzeichnetes Dokument – eine Familienverfassung/ -charta/ -kodex. Dieses Dokument ist nicht rechtlich verbindlich, entfaltet seine Wirkung jedoch gerade durch seine moralische Kraft. 

 

Doch hinter dem Horizont geht es bekanntlich weiter. Ist dieses Ziel nun erreicht, so scheint das nächste schon auf: Das Familiendokument muss gelebte Praxis werden. Die Vereinbarungen sollen zu Familientagen führen, sollen beim Umgang mit Streitigkeiten helfen, sollen die Rollen in Familie, Unternehmen und Gesellschafterkreis so ordnen, dass das Familienunternehmen über Generationen Bestand hat. So erweist sich der Weg, über den wir eingangs gesprochen haben, als Etappe eines noch längeren Weges.